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Glauer Joie De Vivre, review by Simon Elson, 2019

Glauer Joie de Vivre

Marius Glauer im Fructa Space, München

Wir haben die Fotografie als Teil der Realität akzeptiert. Das Abbild gehört zur Wirklichkeit. Spielend unterscheiden wir zwischen Foto und Welt oder können eine Ähnlichkeitsbeziehung erkennen. Wir heißt übrigens wir Menschen. Alle, überall. Dass dieses totale Wir nicht immer dagewesen ist, haben noch mindestens bis in die 1960er hinein feldforschende Gelehrte bezeugt. Sie sind nach Afrika und in andere, mit den Bräuchen der westlichen Zivilisation kaum vertraute Gebiete gereist. Dort haben sie den Einwohnern, die so etwas noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen haben, Fotografien gezeigt. Der Anthropologe Melville Herskovits erzählt beispielsweise von einer afrikanischen Buschfrau, der eine Schwarz-Weiß-Aufnahme ihres Sohnes in die Hand gedrückt wird. Sie hat große Mühe, das als dessen visuelle Repräsentation anzuerkennen, dreht das weiß-grau-schwarze Papier hin und her, um den Sinn zu ergründen. Erst als man ihr alle Elemente des Fotos genau erklärt, kann sie das Sujet erkennen.

Dass sie Mühe hat, die Hauptsache zu sehen, nämlich ihren Sohn, liegt wohl auch daran, dass mit der Fotografie Unvertraute sich an visuell hervorstechenden Nebensächlichkeiten aufhalten: An den spitzen Kanten des Fotopapiers, an dem leuchtend weißen, inhaltlich bedeutungslosen Rand, der damals jedes Foto rahmt. Man könnte diese Nebensächlichkeiten eigentlich als quasi-skulpturale Eigenschaften bezeichnen, was wiederum direkt zu Marius Glauers Werk führen könnte. Allerdings steht da der selbstwachsende Zementblock der fotografisch-visuellen Kultur im Weg, der die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg zu beherrschen beginnt, obschon von diesem Zeitpunkt an das Sehen und die Bilder immer genauer erforscht werden. Mit der sich deutlich bestätigenden Hypothese, dass der mechanischer Seh-Vorgang bei allen Menschen gleich ist, jedoch das Was und Wie visueller Erkenntnis stark von der jeweiligen Kultur geprägt wird, verfasst etwa Herskovits gemeinsam mit einem Psychologen und einem Sozialforscher die bahnbrechende Studie The Influence of Culture on Visual Perception (1966). Tatsächlich gehen wir auch heute noch davon aus, dass wir die Welt nur zu einem Teil so sehen, wie sie wirklich ist. Den anderen Teil mischt unsere Erfahrung, unser kulturelles Wissen hinzu. Man sieht, was man weiß. Und wer die ganze Zeit mit Fotos konfrontiert wird, sieht vielleicht bald nur noch Fotogenität.

Man könnte die anthropologisch-kolonialistischen Aspekte dieser Perzeptionstheorien mühelos auseinandernehmen, doch das ist hier nicht der Punkt. Der Punkt ist: Mit Sicherheit gibt es heute keine größeren Weltgegenden mehr, wo man eine Fotografie nicht (an)erkennt. Mehr noch, das Fotografische zementiert und verhärtet die gesamte Kultur, lässt taktiles Leben erstarren, verdeckt als Handykamera die Sicht, macht Augen zu Einbahnstraßen – genau wie hier zu Beginn der Review. Dabei sind wir nur Leser und Kritiker. Noch heftiger ist es für alle, die mit der Kamera etwas ästhetisch Genuines erreichen wollen. Jeder von ihnen prallt mindestens einmal von diesem Block ab, muss dann irgendwie rüberklettern, drunter durch graben, in eine andere Richtungen abdrehen, Durchgänge bohren. Weil es eben mehr Fotos als Wirklichkeit gibt, sich die Menschenmassen immer weiter zum schiefen Turm von Pisa wälzen, nicht um ihn zu erfahren, sondern um sich dort zu knipsen, hat der Künstler Marius Glauer ein Elemente des Visuell-Fotografischen herausgearbeitet, das man fast nicht (mehr) wahrnimmt. Das ist, ganz wörtlich, das Bildhauerische.

Glauer baut sozusagen seinen eigenen Pisa-Turm, er gestaltet Dinge, die es nicht gibt und fotografiert sie dann. Er wird zum Bildhauer mit den Mitteln der Fotografie, was man jetzt bei seiner von Christian Ganzenberg kuratierten Show im Münchner Fructa Space erleben kann. Selbst ein altes Urlaubsfoto aus Madagaskar formt Glauer skulptural um, indem er es riesengroß aufbläst, auf eine semidurchsichtige Mesh-Folie druckt – und an die Aussenfassade von Fructa knallt. Man sollte „knallt“ sagen und nicht „hängt“, weil die drei jungen, fast kindlichen Männer auf dem Foto mit ihren nackten Oberkörpern ziemlich kitschig auf die Leonrodstraße leuchten. Three Horses heißt dieses Bild. Der Kurator schreibt dazu: „Billboard-groß steht Glauer neben zwei Freunden an einem Strand in Madagaskar … Naive Unbändigkeit, Hoffnungen, Träume, Glaube und Zweifel. Alles scheint hier schon angelegt zu sein, aber nichts ist ausformuliert.“

Die drei sehen grün hinter den Ohren aus. Neugierig. Welchen Ort kann man noch entdecken, wo ist das irdische Paradies? Jeder kennt diese Fragen, kann sich einfühlen. Doch die Jugend-Reminiszenz wirkt nur vordergründig. Das Foto – in dieser Größe und an dieser Stelle – ist vielmehr ein Zeichen ästhetischer Selbstbehauptung. Der Ort, den man noch entdecken kann? Er ist genau hier! Das ist die Lebensfreude, die Glauer Joie de Vivre als Show-Titel verspricht.

Betritt man den Galerieraum, umwandert man das objekthaft Falten schlagende Biografie-Standbild, das dann auch durch die Fenster nach innen leuchtet. Jetzt gehört es noch deutlicher zu der Skulptur, die Glauer seit Jahren in verschiedenen Verästelungen formt und fotografiert. Das Kuratorenwort „Billboard-like“ deutet es an, ein Billboard ist mehr als ein Bild, es ist Installation. Solche materialästhetischen Riesendinger haut Glauer immer mal wieder raus, doch vor allem werkelt und pflückt er mit verschiedensten Materialien wie Folien, Tinte, Nagellack, Farbe, Schmuck, Blumen und Mode-Accessoires kleine Materialassemblagen zusammen, die er dann mit der Großformatkamera analog oder digital aufnimmt.

Im Hauptraum von Fructa steht die zentrale Installation Dreams and Memories (2019), die aus einer rangezoomten und dann auf eine veritable PVC-Plane gedruckten Orchideenblüte und einer davor per Acrylglas-Ständer errichteten Fotoskulptur besteht. Genüsslich schlabbert die Blumenplane in den Raum, unten in lockere Falten fallend, die eine sanfte Welle zur Fotografie Joie de Vivre bilden: Auf dieser Serie rinnt Nagellack, in dem sich noch die Studiolichter spiegeln, knallrot eine lackierte Metallplatte hinab. Gegenüber wird bei Dark Blossom Margiela (2019) die Reflexion auf einer Margiela-Handtasche als surreale Landschaft neuerfunden. Und hinten leuchtet das magisch firmamentartige Black von 2015 in den Raum – Zufall oder Diskursschicksal, dass im selben Jahr die Fotografie-Ausgabe von „Texte zur Kunst“ erschienen ist?

Diskursschicksal natürlich. Denn niemand muss sklavisch auf die Fragen der Zeit antworten, aber ganz entkommt man ihnen nie. Passend dazu ticken die abstrakten Uhren-Objekte (2019) von Jan Erbelding, dessen künstlerische Praxis an sich textbasiert ist. Ausstellungsbegleitend performt er eine dreiteilige Lesung: „Es ist grün draussen und Wolken. Die sind irgendwie auch grün. Es ist Abend und ich bin farbenblind. Alles gut. Auf dem Weg in die Küche zurück, dachte ich mir noch kurz, vielleicht bin ich die Zukunft.“

Erbeldings konstruktivistische Poesie passt zu Glauers genuiner Ästhetik, die man so vorher noch nicht gesehen hat. Dennoch steht sie in der Zeit, in der sozialen Welt. Da ist nicht nur die mächtige visuelle Kultur, deren Abnutzungsmaschinerie man kontern muss. Auch das Werk von Wolfgang Tillmans spielt eine Rolle. Als Glauer in den 2000ern in Berlin bei Sonja Müller und Josephine Pryde studiert, reüssiert Tillmans, bereits im Jahre 2000 als erster Fotograf überhaupt mit dem Turner Prize bedacht, in allen Genres. Hier ist aber nicht der Platz, Glauers hochspannende Differenzen mit Tillmans Werk zu beschreiben.

Was zeigen Marius Glauers Bilder? Ist der Nagellack, der auf der titelgebenden Serie Joie de Vivre herunterläuft, eine Blutspur, ein Lebensfreude-Symbol – oder doch einfach nur Farbe und Form? Eine ungeheure Leichtigkeit und Befreiung liegt in der Wirkung dieser Bilder, weil man nichts erkennen muss, aber so viel sehen kann. Immer mal wieder ist man auch kurz verwirrt und fragt sich: Ist das wirklich ein Foto? Warum überhaupt ein Foto, warum nicht gleich Skulptur?

Entzieht man es dem Alltagsmissbrauch und dem direkten Wirklichkeitsbezug, wie Glauer es mit der Skulpturalisierung erreicht, kann das fotografische Bild eine magische Wirkung entfalten, eine Spur in der Wahrnehmung, in der Erinnerung hinterlassen. Es lockt den Betrachter, Träume und Erinnerungen zu formen, die er vielleicht noch nicht richtig zu greifen vermag. Es zeigt ihm Orte, die noch niemand gesehen hat. Man könnte sich sogar ausmalen, was passieren würde, wenn ein Anthropologe der Zukunft einem Venuswesen Glauers Fotoskulptur Dreams and Memories zeigt und fragt: Was ist das?

Falls mit den historisch-irdischen Bräuchen vertraut, wird das Wesen vielleicht antworten: Klar, das ist Kunst. Aber was würde es sagen, wenn es nicht damit vertraut ist?

Glauer Joie de Vivre“, Fructa Space, Leonrodstraße 89A, 80636 München, bis 26. Oktober 2019.

Zur Ausstellung gibt es drei Lesungen von Jan Erbelding, zwei davon sind bereits gelaufen, die dritte findet am 26. Oktober 2019 um 19 Uhr statt: „Soundtrack / Lust for Life beziehungsweise joie de vivre“